JNG #340: Karteikarten: Die perfekte Lernlüge

Das Examen prüft nicht dein Wissen, sondern deinen Umgang mit Unsicherheit.

Warum du das ernstnehmen solltest: Unsicherheit ist der Normal-, nicht der Ausnahmezustand. Nur wer Stoff unter Unsicherheit anwendet, erkennt, ob er wirklich trägt.

Lesezeit: 5,5 Minuten (sorry für den Rant!)


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Der Schreibtisch ist voll. Karteikarten in Stapeln, farblich codiert, sauber beschriftet. Ein Jahr Arbeit steckt da drin. Definitionen, Aufbauschemata, Streitstände. Alles fein säuberlich sortiert, nichts wirklich verstanden.

So beginnt der Albtraum vieler Examenskandidatinnen. Sie glauben, wer nur genug schreibt, und wiederholt – der besteht auch. Karteikarten sind ihr sichtbares Zeichen von Kontrolle in einem Studium, das sich merklich oft Kontrolle entzieht.

Der Schein trügt also. Karteikarten beweisen nur, wie fleißig du warst. Sie treten an die Stelle juristischen Denkens, wenn sie zur Hauptbeschäftigung werden. Sie trainieren Wiedererkennung statt Verständnis – weil sie isolierte Fakten abfragen, statt Zusammenhänge aufzuzeigen. Die Lernforschung nennt das wenig überraschend den Wiedererkennungseffekt – vertraut, aber flach: Wissen wirkt sicher, bis es geprüft wird. Zwischen den Stapeln liegt aber selten echtes Wissen – nur Angst in DIN A6.

Die wenigsten scheitern im Examen, weil sie nicht genug wissen, sondern weil sie das, was sie wissen, nie zu Ende gedacht haben.

⚖️ Wenn Karteikarten das Denken ersetzen

Karteikarten sind deine mentale Schwiegermutter. Sie trennen, was zusammengehört. Statt zu begreifen, warum überhaupt gestritten wird, schreibst du dir die Meinungen auf. Statt das dahinterstehende Prinzip zu reflektieren, lernst du die konkrete Formulierung auswendig.

Das Gehirn speichert Bedeutung durch Verknüpfung – Karteikarten reißen sie auseinander, machen Wissen bruchstückhaft. Begriff A ergibt nur Sinn, wenn man sein Verhältnis zu Begriff B klärt. Was natürlicher Herrschaftswille ist, bleibt ohne entsprechendes Subsumtionsmaterial aus einem Fall unverständlich. Wissen ohne Kontext ist wahnsinnig schwer zu behalten.

Im Examen fragt dich niemand deine Karteikarten ab. Sie legen einen Fall hin und wollen sehen, ob du ihn lösen kannst.

💡 Das Examen prüft Integration, nicht Reproduktion

Wir kennen sie alle, diese Student*innen – und vielleicht würdest du das sogar auch über dich sagen: Sie kennen die abgefucktesten Streitigkeiten und Urteile – nur nicht, wann sie sie brauchen, warum es auf sie ankommt und wie sie sie zu Papier bringen sollen. Sie schreiben hin, was sie wissen, aber ohne Normbezug. 

Ich darf das sagen, weil ich vor rund zwölf Jahren zu ihnen gehört habe.

📜 Lang, lang ist’s her, aber: Im Januar 2013 stand der Prüfervermerk des JPA einer bestimmten Ansicht sehr (!) skeptisch gegenüber und meinte, sie ließe sich „rechtsdogmatisch kaum sauber begründen“. Der BGH hatte diese Bedenken in der zugrundeliegenden Entscheidung nicht. Im echten Examenstermin haben sich einige Kandidat*innen bemüht (und sehr schwer damit getan), die Argumentation der BGH-Entscheidung zu reproduzieren – was von einigen mir bekannten Prüfer*innen als „fernliegend“ bemängelt wurde. Insoweit ist Vorsicht geboten, einer BGH-Entscheidung „blind“ zu folgen, wenn man die Argumentation nicht versteht! Es wäre in der Klausur genauso vertretbar – und im Zweifel besser begründbar – gewesen, einfach stumpf das Gesetz anzuwenden, statt eine Beschränkung der Vertragsfreiheit zu konstruieren, über die du in deinem Leben garantiert noch nie nachgedacht hast.

🧩 Prüfer*innen konstruieren Fälle bewusst so, dass reines Wissen nicht reicht – oft schon dadurch, dass der Sachverhalt eine Nuance anders liegt als das Urteil, auf dem er beruht.

Wer Karteikarten wie ein Wissensarchiv nutzt, trainiert Reproduktion – nicht Integration. Du lernst Bausteine, während das Examen Konstruktion verlangt.

Und auch der Kampf gegen das Vergessen ist nicht so groß, wie er immer gemacht wird. Das Examen ist kein Gedächtniswettbewerb; man gewinnt es durch Methoden- und Urteilskompetenz.

🧠 Karteikarten zur Angstbewältigung

Gegen Karteikarten ist per se gar nichts einzuwenden – aber sie werden selten wirklich als Lernwerkzeug eingesetzt. Meist dienen sie der Gewissensberuhigung. Wer jeden Tag mehr davon schreibt, als er wiederholen kann, kämpft in Wahrheit nicht mit dem Stoff, sondern mit der Angst, etwas Wichtiges zu übersehen. Jede Karte als kleiner Sieg gegen das Gefühl, überfordert zu sein.

Ich habe oft genug mit Studierenden gearbeitet, die sich nach jedem Rep-Tag alles auf Karteikarten geschrieben haben, das sie noch nie gehört hatten. Einfach, um es für „später“ festzuhalten. Quasi Sicherheit stapeln, Karte für Karte.

Das Examen prüft aber nur bedingt, ob du dich sicher fühlst. Es prüft, ob du denkst, während du unsicher bist. Karteikarten schaffen vermeintlich Ordnung, wo du Chaos aushalten müsstest. Versteh mich nicht falsch: Ordnung hilft, den Einstieg zu finden. Aber irgendwann musst du raus in die große, weite Welt.

🔥 Sicherheitsverhalten wie dieses ist heute beruhigend und morgen lähmend. Es hält Angst kurzfristig niedrig und Lernreize klein. Denn wer Angst vermeidet, vermeidet auch Reibung – und ohne Reibung entsteht kein kritisches Denken. Angst – und ich rede ausdrücklich nicht von Prüfungs- oder Versagensangst – ist kein Problem, solange du bereit bist, sie als integralen Bestandteil der Examensvorbereitung zu begreifen.

Nicht Wissen fehlt dir, sondern Toleranz für Unwissen.

🎯 Lernen durch Anwendung

Verständnis entsteht nicht vor der Anwendung, sondern durch sie. Die meisten warten, bis sie „mit dem Stoff durch“ sind – bis die Karteikarten vollständig sind, die Definitionen sitzen. Aber das Examen bewertet nicht Vollständigkeit. Im Newsletter vergangene Woche habe ich dir vorgerechnet, dass ein kompletter Zivilrechtsexamensdurchgang inhaltlich maximal 10–15 % des Pflichtfachstoffs abprüft.

Beim Anwenden bist du gezwungen, Wissen nach praktischem Bedarf abzurufen – und erst diese Verknüpfung zeigt, ob dein Wissen trägt. Denn nur in der Anwendung muss Wissen sich bewähren, nicht in der Theorie.

🚨 Ich kenne Studierende, die ein Jahr lang täglich fünf Stunden Karteikarten geschrieben und wiederholt haben, ohne einen einzigen Fall zu lösen. Als sie endlich damit anfingen, wurde ihnen klar, wo ihr Wissen endete und wo Lücken begannen. Und das nur, weil sie Fehler gemacht haben, die dadurch bearbeitbar wurden.

Theorie ist nötig, aber sie ersetzt keine Anwendung. Fehler werden erst Lern- und Lehrmaterial, wenn du sie mit Feedback kombinierst. Und sei es nur durch den Abgleich deiner Ideen mit einer Musterlösung.

🪞 „Aber ich brauche doch das Wissen!“

Ich höre oft: „Ich kann ohne den Stoff keine Fälle lösen.“ Eine Studentin meinte zu mir, sie könne ohne ihre Karteikarten gar nicht Examen machen. Sie hatte Tausende – perfekt sortiert, kaum benutzt. Ihre Karten haben ihr vielleicht das Gefühl von Fortschritt gegeben, aber tatsächlich trat sie auf der Stelle. Eine Woche später schrieb sie ihre erste Klausur – ohne Karteikarten, ohne Plan. Zum ersten Mal dachte sie nach, statt einfach nur abzurufen. Die Klausur lief schlecht, aber es war eine Klausur. Ein Fuß in der Tür.

🔁 Der mentale Reset

Vergiss mal einen Moment alles, was du übers Lernen weißt. Kein Lernprozess ist auf Perfektion ausgelegt. Das Gehirn ist kein Speicher, sondern ein Labor. Der Reset beginnt, wenn du das von Anfang an falsche Ziel loslässt: alles wissen zu wollen. Er zwingt dich, Wissen wieder als Werkzeug zu sehen – nicht als Trophäe.

Und nein, du musst nicht gleich alle deine Karteikarten wegschmeißen. Aber lös morgen vielleicht mal einen Fall.

#examensrelevant



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